Dieses auch als „Blutschnee“ beschriebene Phänomen sorgt bei Passanten für viele Fragen, weil die Hintergründe kaum jemand kennt. Oberhalb von 2.000 Meter Seehöhe liegt heuer nordseitig noch immer ziemlich viel Alt- bzw. „Sommerschnee“ aus dem letzten Winter. Er ist mittlerweile stark verdichtet. Der Regen hat oberflächlich viele Rillen, Mulden und Pools „hineingefräst“. Hier rinnt dann auch das Schmelzwasser zusammen. Und diese gute Feuchtigkeit nutzen winzige Pflanzen für ihre kurze „Blüte“. Das malerisch-schmutzige Rot auf dem Schnee hat auch seine künstlerischen Qualitäten.
Es sind einzellige Algen, die sich jetzt im Hochgebirge fortpflanzen. Das tun sie schon seit vielen Jahrtausenden, seit Ende der Eiszeiten jeden Sommer. Lateinischer Name: Chlamydomonas nivalis.
Auch Fotos aus Kanada in unserer Alpen-Galerie
Insgesamt gibt es 350 Arten von Schneealgen. Sie bevölkern alle Hochgebirge weltweit, in denen es viel Schnee gibt – in den Neuseeländischen Alpen und Anden Lateinamerikas jahreszeitlich genau seitenverkehrt. In unserer Bildergalerie finden Sie neben aktuellen Luftbildern auch zwei Fotos aus den Coast Mountains im westlichen Kanada – frisch abgelichtet in den letzten Tagen von der kanadischen Berg- und Skiführerin Helene Steiner, einer gebürtigen Leogangerin aus dem Salzburger Pinzgau.
Als zu Beginn des 19. Jahrhunderts britische Seefahrer auf der Suche nach einer Nordwestpassage den höchsten Norden Grönlands und die Baffin Bay von Kanada erkundeten, staunten auch sie über Schneefelder in „dunkler Karmesinfarbe“. Kapitän John Ross schrieb, der Schnee sei bis in eine Tiefe von zwölf Fuß (ca. vier Meter) von dem färbenden Stoff durchdrungen. Schiffsoffiziere betrachteten Proben unter dem Mikroskop und fanden dunkelrote, samenkornartige Gebilde – die Sporen der Schneealge, wie man heute weiß. Sie ist eine Basis der Nahrungskette im Hochgebirge, dienen manchen Insekten als Futter, die wiederum für Vögel wichtig sind usw.
Heuer scheint die Vermehrung der Algen etwas stärker zu sein als in anderen Jahren. Ihre Existenz gilt unter Fachleuten als völlig natürlich. Sie sei kein Anzeichen irgendeiner Bedrohung, heißt es.
Robust, angepasst, genügsam
Dass auf dichtem, vielfach umgewandeltem Schnee solche Lebewesen überhaupt existieren können, das grenzt für manche Betrachter an ein Wunder. Ein lebensfeindlicher Ort.
Die Temperaturunterschiede zwischen Tag und Nacht können im Sommer extrem sein. Dazu kommen die an den längsten Tagen des Jahres sehr starke UV-Strahlung und kaum Nährstoffe. Algen ernähren sich wie die meisten Pflanzen über Wasser, Kohlendioxid aus der Luft, Sonnenlicht und Mineralstoffe. Diese holen sie sich aus Staubablagerungen auf dem Schnee oder direkt aus der Luft.
Staub als gutes Futter
Es sei möglich, dass heuer besonders viel Saharastaub als Kraftfutter für die Algen herangeweht wurde, sagte uns ein Meteorologe. Der Lebenszyklus von Schneealgen ist voll an die Entwicklung der Schneedecke im Hochgebirge angepasst. Den Winter überlebt die Alge in Form von roten Sporen unter dem Schnee. Beginnt die Schneedecke im Frühsommer und Sommer dann auch oberflächlich stark zu schmelzen, dann löst das Wasser die Keimung der Sporen aus. Jede Spore entwickelt sich zu mehreren neuen Algen.
Das Rot kommt von den Sporen
Die Schneealgen selbst sind ziemlich unscheinbar, bei genauer Betrachtung eigentlich grün, weil sie Chlorophyll für die Photosynthese enthalten – für ihren Stoffwechsel.
Dass die Sporen rot sind, hat laut Fachleuten mit dem Wirkstoff Astaxanthin zu tun – ein Carotinoid, das auch im Lachs zu finden sei. Der Fisch frisst im Meer andere Algenarten und bekommt dadurch die Farbe seines Fleisches. In der Schneealge bewahre der Farbstoff deren inneres Photosynthese-Kraftwerk vor zu intensiver Sonnenstrahlung, sagen Botaniker. Vermutlich schützt das Rot auch das Erbmaterial vor dem extremen UV-Licht im Hochgebirge.
Einmal Sex und einmal Zellteilung
Bei der Vermehrung fährt die Schneealge zweigleisig: Ihre erste Methode ist die Zellteilung. Die geht den ganzen Sommer über die Bühne, erzeugt aber nur genetisch völlig identische „Klone“. Die zweite Art der Fortpflanzung ist vielschichtiger und rein auf die Zukunft des kommenden Jahres ausgerichtet – eine sexuelle zwischen verschiedenen Algen. Daraus entstehen die roten Sporen, die nun an vielen Stellen im Hochgebirge zu sehen sind. Diese Keimzellen nutzen im weiteren Lauf des Sommers wieder das verbleibende Schmelzwasser, um sich unter dem Schnee oder direkt im Boden einzunisten. Auf Gletschern lassen sie sich durch den Firn, der bis zum Herbst immer mehr zusammenschmilzt, bis auf die Eisoberflächen schwemmen, wo sie überwintern.
So überdauern die roten Sporen die kalten Monate bis zum nächsten Frühling, und der ganze Zyklus beginnt wieder. Konzerne für Gesichts- und Hautkosmetik werben mittlerweile mit den Inhaltsstoffen der Alge, die jung halten sollen. Die Gebirgsbewohnerin Chlamydomonas nivalis leistet aber weiter Widerstand gegen die industrialisierte Welt: Kein Wissenschafter hat es bisher geschafft, die Geheimnisvolle im Labor zu züchten. Einige Facetten ihres Wesens bleiben unbekannt.